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"Digital Natives" Die Revolution der Web-Eingeborenen

"Digital Natives" sind mit Wikis, Blogs und Social Networks aufgewachsen und unterscheiden kaum mehr zwischen virtueller und realer Welt. Unternehmen sind gut beraten, die Web-Ureinwohner ernst zu nehmen. Denn sie können nicht weniger als unsere Gesellschaft verändern.
Von Andreas Neef, Willi Schroll und Björn Theis

Die Generation Internet begehrt auf: Mit dem "Manifest der Digital Natives" meldeten sich kürzlich die Netznutzer zu Wort, die mit dem Internet aufgewachsen sind und sich von der Passivität der Generation Fernsehen abgrenzen. Eine zentrale Forderung der Autoren lautet "digitale Öffnung und digitale Modernisierung der Arbeitswelt".

Urheber der Deklaration ist DNA Digital, eine Initiative unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit dem Ziel den Wissensaustausch zwischen Unternehmern und den Digital Natives zu fördern.

Die zentrale These dieser Arbeitsgruppe: Durch das Internet entstehe ein wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Wandel, der die Zukunft der Arbeitswelt prägen wird. Im Hinblick auf Unternehmen wird die Nutzung von Wikis, Blogs und Social Networks diskutiert, die zu einer neuen Kultur des Wissensaustauschs führen soll. Im Augenblick sitzen jedoch in den Chefetagen zu einem Großteil Menschen, die nicht selbstverständlich und ständig bloggen, posten, twittern und chatten. So entsteht eine Kluft zwischen Unternehmensstrukturen und gesellschaftlicher Realität.

Generation Internet

Der von dem amerikanischen E-Learning Experten Professor Marc Prensky bereits um 2001 geprägte Begriff Digital Natives bezeichnet eine Generation, die den vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten des World Wide Web groß geworden ist. Quasi als zweite Muttersprache erlernten sie die Semantik der Browsereingaben, das Verwalten und den Umgang mit zahlreichen Daten und Formaten sowie das Recherchieren im größten Informationspool aller Zeiten.

Ihnen gegenüber stehen die Jahrgänge, die vor dem Siegeszug des Computers geboren sind: die Digital Immigrants. Aufgefallen war Prensky die Kluft zwischen "digitalen Ureinwohnern" und "digitalen Immigranten" an Universitäten und Schulen: Wo es um Internet- und Computernutzung ging, kam es zu einer Umkehr des Wissenstransfers. Die Lernenden erklärten den Lehrenden die Möglichkeiten der digitalen Werkzeuge.

Neuerdings meldet sich der Urheber des Begriffspaares Natives und Immigrants zurück und äußert Zweifel am eigenen Konzept: Angesichts der digitalen Durchdringung des Alltags verliere die Unterscheidung langsam an Wert. Dem kann man gleichzeitig zustimmen und widersprechen: Die Grenzlinie zwischen den vor und nach 1980 Geborenen ist problematisch und verschwimmt umso stärker, da auch Merkel und Obama die digitalen Kommunikationskanäle seit Langem für sich entdeckt haben.

Dennoch vollzieht sich seit zwei Dekaden eine globale Revolution - auf der einen Seite eine technische, auf der anderen eine gesellschaftliche: Menschen, die mit den digitalen Möglichkeiten aufgewachsen sind, lernen, arbeiten, schreiben und interagieren anders als noch die Generationen zuvor. Sie treffen und verlieben sich sogar online - im Netz kommunizieren sie mit Menschen, denen sie real vielleicht nie begegnen würden. Gegenüber den Generationen vor ihnen unterscheiden sich die digitalen Revolutionäre durch die vier folgenden Eigenheiten:

Vier wesentliche Eigenheiten der Digital Natives

1. Die Digital Natives sind Netzbewohner

Marc Prensky betont die kulturelle Perspektive: Während die Immigranten zwischen virtuell und real deutlich unterscheiden, trennen die Digital Natives off- und online nicht voneinander. Was andere als virtuell bezeichnen, ist für sie gelebte Realität. Sie verstehen das digitale Reich nicht nur als neues Kommunikationsmittel, sondern als sozialen Kulturraum, den sie durch Inhalte, soziale Netze und stetige Partizipation aufbauen, erobern und erhalten. Das Internet ist für sie das Leitmedium eines neuen und offenen Kulturwandels, der eigene Definitionen von Identität, Freundschaft und Privatheit entwickelt. So fühlen sich viele Digital Natives durch ihre Avatare in Second Life oder World of Warcraft zutreffender repräsentiert als durch ihre reale Person.

2. Die Digital Natives sind Freigeister

Interaktion ist geteiltes und geschätztes Gut der Netzgeneration: Die digitale Welt ist eine Mitmachkultur. Durch zahlreiche Kreativtools kreieren sie Angebote und Kooperationsmöglichkeiten. Gratis verfügbare Blogs, Tauschbörsen für Fotos, Grafiken und Musik bereiten den herkömmlichen Dienstleistern Konkurrenz. Oft steht dabei gar nicht der Profit, sondern die Bereicherung des digitalen Gemeinwesens im Vordergrund. Das Web lässt die Digital Natives zu digitalen Produzenten werden, deren selbst generierte Inhalte und Open-Source-Mentalität zunehmend die kostenpflichtigen Angebote ersetzt.

3. Die Digital Natives leben gleichzeitig

Für digitale Immigranten sieht das Arbeitsverhalten der "Eingeborenen" unkonzentriert aus. Dagegen ist die geteilte Aufmerksamkeit aus deren Sicht eine Art, die Dinge effizienter abzuarbeiten. Nicht zuletzt die frühe Beschäftigung mit Videospielen scheint eine andere Erwartungshaltung an Medien mit sich zu bringen - das Sich-Einlassen auf langatmige Geschichten, sei es im Film oder im Roman, erscheint vielen der Digital Natives anstrengend. Die zunehmende Multitasking-Fähigkeit der Digital Natives hat Einfluss auf das Nutzerverhalten - und das wiederum wirkt sich radikal auf die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen aus. "Die Rolle und Funktionen der Marktteilnehmer ändern sich in der Netz-Economy dramatisch", sagt Internetguru Ossi Urchs.

4. Die Digital Natives sind medial

Vor dem Siegeszug von Web 2.0 und den digitalen Informationsmedien verließ die eigene Meinung selten den Tresen der Eckkneipen. Heute hingegen ist es ein Leichtes, eigene Thesen in einem Blog zur Verfügung zu stellen. Die private Meinung wird öffentlich. Daraus ergibt sich ein deutlicher Unterschied in der Kommunikationskompetenz der Netzgeneration. Die Kreativtools des Netzes geben den Nutzern die Mittel an die Hand, aktiv am Weltgeschehen zu partizipieren und Einfluss zu nehmen. So sind die Digital Natives durchaus bereit, für ihre Rechte, Werte und Normen Politik zu betreiben.

Die Gründung der Piratenpartei verdeutlicht das: Die Gruppe hat sich die Aufgabe gestellt, Urheberrechte an immateriellen Gütern wie Film und Musik zu reformieren. Zwar steht aus Imagegründen derzeit der Name der Partei zur Debatte, dennoch ändert das nichts an der Mission der Mitglieder -es gibt eben keine Revolution ohne Reibungsfläche.

Einerseits gefährdet der Austausch von urheberrechtlich geschützten Medien die traditionellen Geschäftsmodelle, andererseits führen die Experimente zu neuen Urheberrechtsmodellen, die es Kreativen und Verlagen auch in Zukunft erlauben, Geld zu verdienen, während sie gleichzeitig von der Energie und Kaufkraft der Amateurszene profitieren.

Wie verändern Digital Natives die Unternehmen?

Zurzeit drängen die Digital Natives auf den Arbeitsmarkt. Im Kontext der Kreativ- und Wissensökonomie gewinnen ihre Kompetenzen zunehmend an Bedeutung. So gerät die Community der Onlinerollenspieler verstärkt in den Fokus der Rekrutierungsbemühungen, denn man hat erkannt, dass Onlinespiele strategisches Denken, Kommunikationskompetenz sowie Führungsqualitäten schulen.

IBM-Manager Moshe Rappoport erwartet deshalb künftig einen positiven Wandel in den Manageretagen und bescheinigt der Netzgeneration eine besonders schnelle Reaktionszeit, überdurchschnittliche Informationsverarbeitung, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen.

Nicht unproblematisch ist allerdings die Übergangszeit, in der sich der digitale Generationenwechsel vollzieht: Eine Befragung des Onlineanbieters LexisNexis, der Wirtschafts-, Finanz- und Rechtsinformationen bereitstellt, fand heraus, dass 44- bis 60-jährige Angestellte den Einsatz von Laptops in Besprechungen als störend empfinden, während die Mehrheit der unter 29-Jährigen dies als effektives Arbeiten bezeichnen.

"Auffassungs- und Verhaltensunterschiede zwischen den Generationen können nicht verleugnet werden. Manager sollten nicht zusehen, wie die rasante technische Entwicklung ihr Personal auseinander dividiert", so Mike Walsh, CEO von LexisNexis. Besonders Unternehmen mit konservativen Strukturen fällt es schwer, sich mit den Bedürfnissen der Digital Natives anzufreunden: Für viele der jetzt jungen Netzgeneration stellt der Nine-to-Five-Job ein Relikt aus Zeiten der Industrialisierung dar. Als Netzwerkarbeiter befinden sich viele ihrer Kollegen und Kontakte in verschiedenen Zeitzonen, sie bevorzugen flache Hierarchien, das Recht auf Mitbestimmung, Transparenz und Herausforderungen. Dafür bieten sie flexible Prozessstrukturen und arbeiten oft hoch effizient.

Digitale Konsummuster

Unternehmen sollten sich zudem überlegen, welche Mehrwertdienste ihnen angesichts der Möglichkeiten des Internets künftig noch Umsatz bringen. IT-Experte Urchs schlägt vor, den Umgang mit den digitalen Spuren im Netz zu lernen und die Wissenspyramide umzudrehen. Dies ist nicht nur nötig, um Mitarbeiter unterschiedlicher Generationen in Unternehmensprozesse einzubinden, sondern auch um ihre Konsummuster zu verstehen.

Zum Leid vieler Werber stellen die Digital Natives keine homogene Zielgruppe dar. Es fällt schwer, sie über die klassischen Werbekanäle zu erreichen. 97 Prozent der 14- bis 19-jährigen haben einen Zugang zum Internet und nutzen dieses Medium intensiver als alle anderen: im Durchschnitt 120 Minuten am Tag. Soweit das Ergebnis einer Studie von ARD und ZDF. Der Fernseher läuft dagegen nur 100 Minuten am Tag, Tendenz fallend. 68 Prozent der Teenies und 57 Prozent der Twens haben ein Profil bei einem oder mehreren Social-Network-Anbietern. Diese Netzwerke nutzen sie auch, um sich über Produkte zu informieren. Anstatt sich auf Werbebotschaften zu verlassen, zählt immer mehr die Meinung der eigenen Kontakte als Hauptquelle von Produktinformationen.

Digitale Bohème als Vorreiter einer neuen Gesellschaftsform?

Die digitale Medienkompetenz spaltet nicht nur Menschen aus unterschiedlichen Generationen, sondern zunehmend auch Gleichaltrige. Dem Bildungssektor drohe eine verschärfte Form der Zweiklassengesellschaft, lauten Befürchtungen.

Eine weitgehende Ignoranz der digitalen Welt und entsprechende Bildungsdefizite kann für Wirtschaftsstandorte, die im harten Innovationswettbewerb stehen, verheerend sein, glaubt John Palfrey, Jura-Professor an der Harvard Law School und Autor des Buches "Born Digital - Understanding the First Generation of Digital Natives". Für die Ausbildung des Nachwuchses spielt die Frage nach Zugangsmöglichkeiten zum Netz und der Erwerb von Social-Media-Kompetenz zunehmend eine Rolle. Schüler und Lehrer müssen gleichermaßen mit sozialer Vernetzung im Internet umgehen und sie für sich nutzen lernen.

Droht in Zukunft also ein verstärkter Kampf zwischen der analogen und digitalen Kultur? Oder gibt sich eine ganze Generation virtuellen Fantasien hin, während die althergebrachten und bewährten Strukturen brachliegen oder ihnen gar der Verfall droht?

Für die Sozialanthropologin Mizuko Mimi Ito sind solche vermeintlichen Hiobsbotschaften nichts als Panikmache. Für sie liegt der einzige Unterschied im Nutzerverhalten: "Der Gebrauch von Medien ist sehr zentral geworden dafür, wie diese Kinder und Jugendlichen ihre Persönlichkeit nach außen präsentieren. Sie sind es gewohnt, alle Informationen ständig verfügbar zu haben und selbstständig zu lernen." Idealerweise würden sie sich viel schneller anpassen als früher und ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand halten, ohne dass man sie zu einer offiziellen Weiterbildung schicken müsse.

Ein antisoziales Verhalten hingegen, wie es zahlreiche Kritiker den Digital Natives vorwerfen, konnte die Forscherin in ihren Studien nicht ausmachen: Wenn sie sich das Sozialverhalten dieser Jugendlichen ansehe, sei das gar nicht so anders. Sie hängen mit Freunden rum und haben romantische Beziehungen.

So besteht der Konflikt nicht vornehmlich zwischen den Generationen, sondern zwischen einem konservativen und einem progressiven Gesellschaftsbild. Genauer betrachtet ist das Phänomen der Digital Natives keine Kulturrevolution, die alles Bestehende hinwegfegen wird. Vielmehr sollte sie als Kulturevolution verstanden werden: Sicherlich wird die Generation der Digital Natives die Industrie, die Weltmärkte, das Bildungssystem sowie die Politik verändern, aber das hat auch schon die Nachkriegsgeneration geschafft - ganz ohne Chats oder E-Mails. Neu ist die Geschwindigkeit, mit der die Digital Natives die Gesellschaft transformieren. Ein Tempo, mit dem Unternehmen Schritt halten müssen, wenn sie in der Netzgesellschaft bestehen wollen.